Der Bauch des Ozeans

von Fatou Diome

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Der Bauch des Ozeans von Fatou Diome

Jeder kennt sie vermutlich: Klappentexte, die einem sofort sagen: nein, das möchte ich nicht lesen. Schlagworte stechen raus, suggerieren, dass dieses Buch interessieren soll, aber meistens sind es genau die, die dann eher abschrecken. Ganz zu schweigen davon, dass ein Klappentext nicht selten abwegige Zusammenfassungen rausposaunt, die nur mit Randerscheinungen der erzählten Geschichte etwas zu tun haben. Natürlich verknappen solche rückseitigen Inszenierungen vermeintlich zielgruppenorientierter Marketingstrategie allermeistens. Hätte ich Der Bauch des Ozeans in die Hände genommen, hätte ich es aufgrund des Klappentextes vermutlich wieder weggelegt. Aber es kam anders, es wurde mit den richtigen Worten empfohlen. Und jetzt bin ich um eine Leseerfahrung reicher, die ich nicht missen möchte.

Es ist Sommer 2000 und die Fußballeuropameisterschaft ist im vollen Gange. Salie, die Erzählerin, lebt in Frankreich und kämpft sich mit geringen finanziellen Mitteln durch den Alltag und ihr Studium. Sie selbst interessiert sich eigentlich nicht sonderlich für Fußball, aber ihr kleiner Bruder. Er lebt in ihrer Heimat, einem Dorf auf der senegalesischen Insel Niodior 1. Sein leidenschaftliches Interesse für Fußball ist der Grund für zahlreiche Gespräche zwischen ihm und seiner Schwester; es ist für sie selbst vor allem eine Verbindungslinie in ihre Heimat und zu ihrer Familie. Da es in ihrem Heimatdorf nur einen mehr schlecht als recht laufenden Fernseher gibt, ist ihr Bruder darauf angewiesen, dass sie alle Spiele für ihn sieht und ihm Bericht erstattet. Über das Telefon des Dorfes klingelt er sie an und lässt sich immer wieder zurückrufen. Dass es dabei nicht einfach nur um die Fußballverrücktheit eines Jungen geht, wird mit jedem weiteren Kapitel deutlich. Denn anders als der Klappentext (und vielleicht mein eigener Anfang dieses Textes) vermuten lässt, geht es gerade nicht um Fußball. Für Salies Bruder geht es um den Konflikt zwischen dem Überleben auf der Insel und dem Wunsch nach einer abgesicherten Zukunft ohne Armut. Für Salie geht es um das schreckliche Gefühl keine Heimat zu haben, überall auf eine andere Weise fremd zu sein und trotzdem nicht frei zu sein.

Ein zentrales Thema ist natürlich auch der Konstrast zwischen den Lebensrealitäten des Dorfes und der nach Frankreich ausgewanderten Dorfbewohner. Salie reflektiert beim Erzählen nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch die vieler anderer Ausgewanderter. Nach und nach scheint man über all diese verschiedenen Lebensgeschichten das gesamte Dorf, die Strukturen, Erwartungen und Kämpfe der Dorfgemeinschaft kennen zu lernen. Die meisten Geschichten, die die Ausgewanderten wieder mit nach Hause bringen, sind Geschichten des Erfolgs. Sie verschweigen oft, was ihnen wirklich widerfahren ist, was ihnen als Schwarze in Frankreich angetan wurde und wie sie leben mussten, um zu überleben. So hält sich im Dorf auch immer wieder der Mythos des Paradieses aufrecht, der ihnen bereits aus dem halb defekten Fernseher als Versprechung und Verlockung entgegenkommt.

Während das Dorf erwartet, bei einem Heimatbesuch reich beschenkt zu werden, sieht das Leben in Frankreich eben nicht so aus, dass sich die Erzählerin das leisten könnte. Die Erwartungen an das Leben, das sie führt, sind durch die vielen überzeichneten Erzählungen anderere Heimkehrer geprägt. Wenn man in das reiche Land geht, in dem man natürlich ein schönes westliches Leben führt, ist man verpflichtet dem Dorf etwas davon zurück zu geben. Bricht man mit dieser Erwartung, ist man vom westlichen Egoismus verdorben worden. In dem Sinne geht es eben auch um die Folgen der Kolonialisierung, die zu einer Fixierung auf französischen Wohlstand und auf Frankreich als Ort der Hoffnung (oder als Ort der einzigen Chance) geführt haben. Was dabei keine Rolle spielt, ist, dass der vermeintliche Reichtum, den man aus Frankreich mitbringt, nur unter den lokalen Verhältnissen Reichtum ist. Dass das Leben in Frankreich unter ganz anderen Vorzeichen steht als auf Niodior, wird nicht anerkannt, weswegen die Erwartungen an die Ausgewanderten hoch bleiben.

Salie steht dabei auf ganz viele Arten zwischen den Stühlen. Ihre Traumatisierung beginnt mit ihrer unerwünschten Geburt, ihrem unerwünschten Status in der Dorfgemeinschaft als uneheliches Kind, das zudem einer Verbindung entspringt, die nicht geduldet war. Bereits hier wird aber auch ihre Stärke begründet, da sie, wie sie selbst beschreibt, im Moment ihrer Geburt sofort Wurzeln geschlagen hat, als sie auf dem Boden ihrer Heimat abgelegt wurde. Diese Wurzeln helfen ihr und lassen sie leiden zugleich. Sie machen sie stark, weil sie überlebt, auch folgende traumatische Erlebnisse, aber sie machen sie verletzlich, weil sie sich von dieser Heimat eben nicht lossagen kann, weil sie immer auf sie zurückgeworfen wird, im positiven und im negativen Sinn. Dabei erfährt sie Ausgrenzung sowohl in ihrer Heimat, als auch dem Land, in dem sie lebt.

Dieser Konflikt wird sehr bedrückend dargestellt, weil Fatou Diome es auf verstörende Weise gelingt, ihn greifbar zu machen mit der Vezweiflung ihrer Erzählerin, der sie so bildstark Ausdruck verleiht. Wobei sich die Verzweiflung Salies weniger auf sich selbst bezieht, sondern auf ihren Bruder, dem sie gerne vieles ersparen möchte, für den sie vieles in Kauf nimmt und dem sie ein bestmögliches Leben wünscht. Er sieht allerdings seine einzige Chance darin, Profifußballer zu werden und nach Frankreich zu gehen, um sein Glück zu versuchen. Er träumt davon in einem französischen Verein aufgenommen zu werden. Mit dieser Sehnsucht repräsentiert er alle Jungen des Dorfes, die bereit sind alles zu opfern und auf diese eine Karte zu setzen; wissend, dass es anderen oft schlecht ergangen ist. Das wollen sie aber nicht hören, sie möchten an diese eine Chance glauben.

Die sehr bildliche Sprache von Fatou Diome ist wunderschön. Die Motive, die sie entwickelt sind stark und ziehen sich durch den gesamten Roman – ohne dabei beliebig zu werden. Eine besondere Rolle kommt den Märchen, Legenden und Mythen des Dorfes zu. Manche Begebenheiten werden mit einer märchenhaften Stimmung aufgeladen, mit einer belebten Natur, mit Schrecken und fast schon Magie. Es sind immer wieder Situationen des Umbruchs und auch des Traumas, die auf diese Weise hervorstechen, sie eindringlicher machen aber zugleich auch leicht verfremden, in eine andere Sphäre heben. Die Natur steht immer im Vordergrund: das Land, das die Füße formt und mit Dornen sticht, die Wurzeln, die sowohl im Boden als auch der Luft überleben, Äste des Baumes, unter dem das Parlament des Dorfes sitzt, die in die Häuser der Gemeinschaft reichen; und nicht zuletzt natürlich der Ozean, das Meer, das Leben gibt und Leben nimmt, der im Titel beschriebene Bauch des Ozeans.

Dass in diesem Roman einige Ereignisse mit dem Leben von Fatou Diome in Verbindung stehen, wird offensichtlich. Verknüpfungen zu realen Ereignissen und markanten Punkten in Diomes eigener Biografie werden hergestellt. Aber es wäre verkehrt diesen Roman auf eine einzige Biografie zu reduzieren und nur vor dieser Folie zu lesen. Der Bauch des Ozeans ist und bleibt eine literarische Aufarbeitung, ein ästhetischer Ausdruck. Und als solcher steht er nicht nur für eine Erfahrung, für ein Leben, sondern für viele. Er beschreibt eine kollektive Erfahrung und Lebensrealität vor der niemand die Augen verschließen sollte. Wir müssen hinsehen und wir müssen verstehen lernen.

Bibliographische Angaben

Fatou Diome: Der Bauch des Ozeans. Roman. 273 Seiten. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Erschienen 2006 [2004] bei Diogenes in Zürich. ISBN: 9783257235210.


  1. Die Insel wird jedenfalls oft Niodior genannt (auch im Roman), nach dem größten Ort der Insel. Eigentlich heißt sie Île de Guior. https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%8Ele_de_Guior – zuletzt eingesehen am 06.06.2020. ↩︎