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Buchtwitter ist eine Welt voller Menschen, die sich gegenseitig mehr Bücher empfehlen, als sie lesen können. Insbesondere, wenn man einer gewissen engagierten Buchhändlerin aus Berlin folgt. Magda – ihr Twitternickt ist @Magdarine – stellt in ihren Bücherthreads 1 vorwiegend Literatur von Frauen vor und trifft damit auf viel Gegenliebe. Zur 3.000sten Follower*in hat sie einen Megathread versprochen, in dem sie alle Bücher von vernachlässigten Autorinnen vorstellt, die sie selbst zu Hause hat. Am 09. August hat sie damit begonnen, die Bücher zu posten; wobei sie noch lange nicht fertig ist. Und weil sie weiß, wie man Menschen für Bücher und Autorinnen begeistert, hat sie mit folgenden Worten die #MagdarineChallenge ausgerufen:

Es ist natürlich leider völlig illusorisch, dass ich diese Bücher in diesem und den nächsten zwei Leben alle werde lesen können, denn dafür gibt es einfach viel zu viele vergessene und unterschätze Schriftstellerinnen. Deshalb teilen wir uns das jetzt auf! Ich präsentiere: die #MagdarineChallenge! Ich fordere euch auf, euch in den nächsten Wochen eines der Bücher aus dem folgenden Thread (antiquarisch, bibliothekarisch, digital, etc.) zu besorgen, zu lesen und dann unter dem # einen kleinen Rezensionsthread dazu zu posten. 2

Dazu kann ich natürlich nicht nein sagen, denn: Zusammen lesen wir mehr. Und deshalb konnte ich es mir auch nicht nehmen lassen, mich durch ihren Thread zu wühlen und nach Büchern zu schauen, die auf meinem Lesestapeln fehlen. Meine bisherige Ausbeute 3 beläuft sich bereits auf mehrere Bücher. Hier möchte ich jetzt die ersten drei davon vorstellen, die ich mir ausgesucht habe. Wobei ich natürlich betonen muss, dass ich sie selbst noch nicht gelesen habe.

Amour dure. Unheimliche Erzählungen von Vernon Lee

Vernon Lee wurde 1856 geboren. Sie entwickelte sich als Autodidaktin zu einer anerkannten Denkerin, Schriftstellerin und Geisteswissenschaftlerin der viktorianischen Epoche. Geboren wurde sie von britischen Eltern in Frankreich und lebte in zahlreichen europäischen Ländern, sprach vier Sprachen und ließ sich schließlich in Italien in der Nähe von Florenz nieder. Bemerkenswert ist, dass Lee offen ihre Liebe zu Frauen zeigte. Durch ihre Reisen nach London und Paris unterhielt sie ausserdem Freundschaften zu vielen Intellektuellen ihrer Zeit. Darunter zählt vor allem auch Virginia Woolf, in deren Zeitschrift sie publiziert wurde. Im Zentrum ihres Schaffens, sowohl in ihren wissenschaftlichen als auch ihren literarischen Texten, steht der Ästhetizismus. Sie erhielt 1924 für ihre wissenschaftlichen Leistungen die Ehrendoktorwürde der University of Durham. Unter ihren literarischen Texten werden vor allem die Geistergeschichten aus dem Bereich der Fantastik hervorgehoben. 4 5

Für diese habe ich mich letztendlich auch entschieden, da ich meine eigene Neigung zu solchen Erzählungen einfach nicht verheimlichen kann und will. Auf deutsch sind ihre Erzählungen im Band Amour dure. Unheimliche Erzählungen erschienen, in der Verlagsreihe DuMont’s Bibliothek des Phantastischen – nur noch antiquarisch erhältlich. Der Klappentext verrät:

Vernon Lees elegante, anspielungsreiche Erzählungen berichten von Italien-Reisenden, die alten und dunklen Kräften zum Opfer fallen. 6

Enthalten sind in diesem Band vier Erzählungen: Armour dure, Die verruchte Stimme, Dionea und Winthrops Abenteuer.

Flucht ins Feenland von Hope Mirrlees

Hope Mirrlees wurde 1887 in Großbritannien geboren. Als eine der ersten Frauen Großbritanniens besuchte sie die Universität. Auch Mirrlees gehörte der literarischen Szene Großbritanniens an und pflegte, wie auch Vernon Lee, unter anderem eine Freundschaft mit Virginia Woolf. Der Roman Flucht ins Feenland, 1926 erschienen, ist ihr einziger Fantasyroman – dennoch gilt er seit den 70er Jahren als wiederentdecktes Kultbuch des Genres. Als Anekdote mag hier interessant sein, dass die erneute Puplikation im Jahr 1970 nicht von der Autorin genehmigt war, bzw. angeblich nicht werden konnte, da nicht festgestellt werden konnte, ob sie überhaupt noch am Leben gewesen sei. 7

Ausschlaggebend für meine Entscheidung zu diesem Buch war nicht zuletzt, dass Neil Gaiman ein Vorwort zu der vorliegenden Ausgabe geschrieben hat. So sehr, wie ich die Art des Geschichtenerzählens von Neil Gaiman mag, vertraue ich auf sein Urteil. Daher bin ich gespannt, was mich in diesem Roman erwartet. Es handelt sich offenbar um eine Konfliktgeschichte zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite das magische Feenland und auf der anderen Seite die Bürger von Dorimare. Aus dem Feenland heraus werden Früchte nach Dorimare geschmuggelt, die das Wesen von Menschen verändern, sie werden wirr und bedrohen die öffentliche Ordnung. Jugendliche, die davon gegessen haben, verschwinden über die Hügel ins Feenland und in Dorimare bricht das Chaos aus.

Laut Neil Gaiman wird das Buch, das als Reisebericht oder historischer Roman beginnt,

zu einer Pastorale, einem Schwank, einer Gesellschaftskomödie, einer Geistergeschichte und dann zu einer Dedektivgeschichte. 8

Ich bin sehr gespannt, wie sich diese Mischung entwickelt und ob der Kult um Mirrlees Roman begründet ist.

Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft von Swetlana Alexijewitsch

Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren, lebte in Weißrussland und ging schließlich aufgrund ihrer politischen Opposition zur Regierung ins Exil. Nach den Vorkommnissen bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl in Belarus ist sie Mitglied im Präsidium des Koordinierungsbeirates geworden, der für eine ordnungsgemäße Wahl und die Freilassung politischer Gefangener eintritt. Auch ihre literarische Arbeit ist von einer politischen Dimension geprägt. Alexijewitsch wurde dafür 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. 9 Dennoch scheint sie verhältnismäßig wenig bekannt zu sein.

Ihr Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft behandelt die Katastrophe, die sich 1986 im gleichnamigen Kernkraftwerk ereignet hat. Alexijewitsch hat für dieses Buch über viele Jahre hinweg mit Augenzeugen der Katastrophe gesprochen und in den Monologen, aus denen sich der Text zusammensetzt, die Erlebnisse und Perspektiven dieser Menschen eingearbeitet. 10 Gerade wegen dieser authentischen Eindrücke, die durch die literarische Aufbereitung vermittelt werden, habe ich mich auch für dieses Buch entschieden. Literatur, so meine Überzeugung, kann Realitäten auf eine Weise vermitteln, wie sachliche Berichte es nicht können.

Das war natürlich nicht alles

Damit die Bücher auch für sich stehen können, möchte ich gar nicht alle Bücher zusammen vorstellen, die Dank dieser Challange jetzt auch noch bei mir eingezogen sind. Das war, wie gesagt, der erste Teil. Es wird mindestens noch einen zweiten Teil geben, vielleicht sogar einen dritten. Wer bis dahin Angst hat unter Büchermangel zu leiden, dem sei einfach nochmal empfohlen durch @Magdarines Thread zu stöbern oder unter dem Hashtag #MagdarineChallenge nachzusehen, denn da sammeln sich inzwischen nach und nach die Rezensionsthreads.

Bibliographische Angaben

Vernon Lee: Amour dure. Unheimliche Erzählungen. 204 Seiten. Aus dem Englischen von M. von Berthof und Susanne Tschirner. Erschienen 1990 bei DuMont in Köln, in der Reihe DuMont’s Bibliothek des Phantastischen, herausgegeben von Frank Rainer Scheck. ISBN: 3770125681.

Hope Mirrlees: Flucht ins Feenland. Roman. 407 Seiten. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Erschienen 2004 bei PIPER Fantasy in München. ISBN: 3492265537.

Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. 297 Seiten. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. Erschienen 2006 [1997] bei Berliner Taschenbuch Verlag in Berlin. ISBN: 3833303573.

Quellen


  1. @Magdarine. 2020, 09. August: Ich mache hier mal einen Thread zum Anpinnen, in dem ich all meine Buchempfehlungs-Threads verlinke. Wäre ja fatal wenn euch mal der Lesestoff ausginge. [Tweet]. Twitter. ↩︎

  2. @Magdarine. 2020, 09. August: Es ist natürlich leider völlig illusorisch, …, Ich präsentiere: die #MagdarineChallenge! [Tweets]. Twitter. ↩︎

  3. Wer also glaubt, dass meine bisherige Liste noch unabgeschlossen ist, liegt damit sehr richtig. ↩︎

  4. Caroline Crampton: You have to be kind to be cruel. In: New Statesman, 06.09.2010, zugegriffen am 27.08.2020. ↩︎

  5. Helga Kaschl: Vernon Lee. In: “Ein Zimmer für sich allein”. Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press 1917-1941, zugegriffen am 27.08.2020. ↩︎

  6. Vernon Lee: Amour dure. Unheimliche Erzählungen. Aus dem Englischen von M. von Berthof und Susanne Tschirner. Köln: DuMont, 1990. ↩︎

  7. Wikipedia: Hope Mirrlees. Publisher: Wikipedia, The Free Encyclopedia, zugegriffen am 27.08.2020. ↩︎

  8. Hope Mirrlees: Flucht ins Feenland. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. München: PIPER Fantasy, 2004. ↩︎

  9. Wikipedia: Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch. Herausgeber: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, zugegriffen am 27.08.2020. ↩︎

  10. Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. Berlin: BvT, 2006 [1997]. ↩︎