du, alice. eine anrufung

von Simone Schabert - Ein Blick in ein anderes Leben, eine andere Zeit.

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du, alice. eine anrufung von Simone Scharbert

Eine Anrufung. Ein Brief, eine Auseinandersetzung, ein Eintauchen in jemand anderen, ein Spiegeln. “du, alice” ist mitreissend, es reisst einen aus dem eigenen Moment und wirft einen hinein in ein fremdes Leben.

Simone Scharbert 1 hat mit ihrem Prosadebüt einen Text über eine Frau vorgelegt, die aufgrund ihres Frauseins nicht die Bildung erhalten hat, nach der es sie hingezogen hat. Alice James wurde 1848 in New York City geboren und verstarb 1892 in London. 2 Während ihren Brüdern alle Möglichkeiten offen stehen, tun sie das für sie nicht gleichermaßen. Und ihr Kampf um geistige Bildung scheint in Simone Scharberts Anrufung auf. Aber auch die Krankheit von Alice James, die zusätzlich ihren Alltag und ihr ganzes Leben bestimmt.

Durch die Augen der Erzählerin erfahren wir ein (mögliches) Gefühlsleben der angerufenen Alice. Und dieses Gefühlsleben ist zutiefst melancholisch. Und es ist fast unaushaltbar mit Hilflosigkeit verbunden. Aber trotz ihrer ungeklärten Krankheit, die Alice phasenweise schwächt, die sie lähmt und zum Objekt macht, bäumt sie sich auch auf – in den guten Momenten, den guten Phasen. Hier gewinnt sie eine Stärke, die sie über ihre Epoche hinaus wachsen lässt. Alice wird Teil der Frauenbewegung und sucht ihre Unabhängigkeit wo immer es möglich ist. Zum Beispiel in einem größeren Netzwerk von Frauen, die sich gegenseitig in Briefen unterrichten; in der silent university.

Man versinkt in der Anrufung an Alice. Es ist wie ein Gespräch, bei dem man selbst als Leser*in zwischen der Anrufenden und der Angerufenen steht. Man fühlt sich angesprochen, angesehen, aber der Blick der Erzählerin schrammt knapp an einem vorbei. Und das vereinnahmt einen für diesen Text auf so großartige Weise. Und auch für die Person Alice James, obgleich diese eben nicht antwortet. Einerseits hat man das Gefühl, in diesen Menschen tief hineinzublicken und mit ihr zu leiden; andererseits weiß man nicht genug von ihr, um ihr Gefühlsleben nachvollziehen zu können. Es entsteht der Wunsch mehr zu wissen, mehr zu verifizieren, mehr zu erfahren.

Und man kann. Alice James hat nicht nur selbst ein Tagebuch geschrieben, das nach ihrem Tod veröffentlicht wurde. Auch Briefe sind erhalten geblieben und publiziert worden, auch wenn es leider schwierig zu bekommen ist. Ausserdem wurde Alice James nicht zum ersten Mal zum Ausgangspunkt einer Fiktion. Bereits Susan Sontag hat mit ihrem Stück Alice in Bed auf Alice James Bezug genommen. Alle, die nach der Lektüre von du, alice mehr wissen möchten, weiter in das Leben von Alice James eintauchen möchten, werden überall dort fündig. Ich für meinen Teil habe die Spuren schon aufgenommen, ich werde ihnen nachgehen und bin gespannt, wohin sie mich führen.

Bibliographische Angaben

Simone Scharbert: du, alice. eine anrufung. 119 Seiten. Erschienen 2019 bei edition AZUR in Dresden. ISBN: 9783942375429.


  1. https://www.simonescharbert.de/ zuletzt eingesehen am 25.05.2020. ↩︎

  2. https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/alice-james/ zuletzt eingesehen am 10.04.2020. ↩︎